Hohe Auszeichnung für einen verdienten Asteroidenforscher

Mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande würdigte der deutsche Bundespräsident Professor Horst Köhler die überragenden Verdienste des Astronomen Dr. Freimut Börngen vor allem auf dem Gebiet der Kleinplaneten. Die Übergabe der Ordensinsignien erfolgte am 6. April 2006 durch den thüringischen Kulturminister Prof. Dr. Jens Goebel im Barocksaal der Staatskanzlei in Erfurt. Der nachstehende Text erschien 2005 im "ORION", der Zeitschrift der Schweizerischen Astronomischen Gesellschaft. Er wurde für diese Ausgabe leicht überarbeitet und gekürzt.

Dr. Freimut Börngen ist als mehr ein Freund der Sterne. Er ist ein Freund der Menschen, und das wissen alle, die ihn näher kennen. Eine Tageszeitung hat mal über ihn getitelt, er habe Geschichte geschrieben, "Himmelsgeschichte" sozusagen. Und Arno Gnädig, ein Kollege aus der Fachgruppe Kleinplaneten der deutschen Sternfreundevereinigung VdS hat ihn an einer Tagung in Berlin als "Urgestein der deutschen Asteroidenforschung" bezeichnet. Tatsächlich ist Freimut Börngen im deutschen Sprachraum der erfolgreichste Asteroiden-Entdecker. Dies ist umso erstaunlicher, als dass er zeitlebens nie mit einer CCD-Kamera beobachtet hat.

Über 500 Asteroiden entdeckt

Freimut Börngen konnte am 17. Oktober 2005 seinen 75. Geburtstag feiern. Bereits im Vorjahr war der 500. von ihm entdeckte Asteroid nummeriert worden; über 400 davon tragen inzwischen wohlausgewählte Namen vorwiegend mit kulturellen, historischen oder auch geografischen Bezügen. Noch immer verfolgt der ehemalige Berufsastronom, der heute in Jena-Isserstedt lebt, aufmerksam und täglich das bewegte Geschehen rund um die Asteroidenforschung. Er pflegt Kontakte zu vielen Freunden überall in der Welt, unter anderem auch in die Schweiz, und er ist auch ein gern gesehener Gast auf Fachtagungen.

Zwischen Politik und Wissenschaft

Der Geehrte hatte, wie er selbst bescheiden sagt, das grosse Glück, in Tautenburg bei Jena mit einem der grössten Teleskope in Europa arbeiten zu dürfen. Doch einfach war dies im damaligen politischen Umfeld, das vom kalten Krieg geprägt war und zur Abschottung der DDR auch in wissenschaftlichen Belangen führte, nicht. Als promovierter Berufsastronom mit freundschaftlichen Kontakten zu Kollegen in aller Welt war er sich bewusst, dass er mitten aus Europa heraus trotz eines Zwei-Meter-Spiegels Mühe hatte, astrophysikalisch mit den grosszügig ausgestatteten Observatorien, namentlich in den USA, mitzuhalten. Die ehrgeizigen, aber stark ideologisch verbrämten Pläne des Zentralinstitutes für Astrophysik (ZIAP) der DDR schrieben ihm bestimmte Beobachtungen an Galaxien und Galaxienhaufen vor. Freimut Börngen widersetzte sich dem nicht und erreichte tatsächlich auch punktuell interessante Resultate, so zum Beispiel mit der Entdeckung zweier Super Clusters jenseits der Virgo- und Coma-Galaxienhaufen oder mit neuen Erkenntnissen zu Zwerggalaxien. "Heute spricht niemand mehr über diese Arbeiten", stellt er im Gespräch trocken und keineswegs resigniert fest. Dass seine Publikationen in diesen Forschungsgebieten heute offenbar weitgehend vergessen sind, ist für ihn kein Anlass zu Traurigkeit und wird durch die hohe Präsenz seiner Asteroiden-Beobachtungen mehr als wett gemacht.

Mit Fleiss und Beharrlichkeit zum Erfolg

Ab den achtziger Jahren widmete sich Freimut Börngen mit wachsendem Interesse den Kleinen Planeten. Was konnte er schliesslich dafür, dass während seinen Pflichtbeobachtungen immer wieder Asteroiden mit ins Gesichtsfeld gerieten? Doch wie er im Freundeskreis heute jeweils mit einem Augenzwinkern anmerkt, lagen manchmal diese Gesichtsfelder auch etwas ausserhalb jener der Pflichtobjekte, manchmal sogar etwas stark ... Dies kümmerte damals niemanden, am wenigsten die Nachtassistenten, die normalerweise für die privilegierten Wissenschafter die langweilige Nachführarbeit am Teleskop übernahmen: Börngen gewährte ihnen oft grosszügig einige Stunden Nachtruhe, was von den Assistenten im Hinblick auf die noch weiter zu erbringenden Leistungen für das sozialistische Vaterland jeweils dankend angenommen wurde. Unser Galaxienforscher hatte so freie Bahn, in jenen Himmelsfeldern, wo es ihm lohnend schien, bis zum Morgengrauen wahre Plattenberge zu belichten, die dann tagsüber von den Fotolaborantinnen, wie er bildhaft anmerkt, "abgearbeitet" wurden: "Himmlischer Bergbau" sozusagen ...

Freimut Börngen, der mit seiner Frau und den beiden Kindern auf der Sternwarte mitten im Tautenburger Forst wohnte, vermass die einzelnen Aufnahmen mit den Asteroiden als Strichspuren darin in klassischer Manier mit Kreuzschlitten und "Anhaltesternen" ? für heutige Astrometriker eine geradezu haarsträubende Vorstellung und dazu äusserst zeitaufwändig. Und man kann nur staunen, wie klein der stets sorgfältig arbeitende Fachmann bei diesen vorsintflutlichen Positionsmessungen, die oft genug auch in der Freizeit durchgeführt wurden, die Residuen hielt. Insgesamt beobachtete Freimut Börngen über 5'000 Asteroiden, für die er mehr als 20'000 Positionen bestimmte! Kein Wunder also, ist die Kleinplanetenarbeit heute für ihn sozusagen sein Lebenswerk geworden.

Systematische Namensgebungen

Heikel wurde es mit der ersten Nummerierung und dem damit fälligen Recht für einen Namensvorschlag ans zuständige Gremium der International Astronomical Union IAU. Kontakte zur angeblich westlich dominierten Astronomenvereinigung waren beim Zentralinstitut in Potsdam nicht gern gesehen. Das Privileg, als so genannte Reisekader an Veranstaltungen im westlichen Ausland teilzunehmen, war nur wenigen "handverlesenen" und ideologisch als zuverlässig eingestuften DDR-Wissenschaftern vorbehalten. Börngen gehörte nie zu ihnen. Im Gegenteil: Für ihn war selbst der Zugang zu unverfänglichen Fachpublikationen, wie beispielsweise zum Minor Planet Circular, schwierig und meist nur über persönliche Beziehungen und organisatorische Klimmzüge möglich.

Freimut Börngen schlug nach reiflicher Überlegung für seinen erstnummerierten Asteroiden den Namen "Tautenburg" vor. Gegen diese internationale Würdigung des Sternwarte-Standortes konnte der strammste Sozialist nichts einwenden, und so durfte er diesen Namen beim namensgebenden Komitee über das Minor Planet Center beantragen mit der ausdrücklichen Auflage seiner Vorgesetzten, damit sei dann aber Schluss. Doch unser Freund stand schon kurze Zeit später mit der ihm eigenen, liebenswürdigen Beharrlichkeit mit weiteren Namensvorschlägen bei seinem Chef auf der Matte. Gegen eine Würdigung des "Lambrecht", des Jenaer Ordinarius für Astronomie, des "Ahnert", des hochverdienten Veränderlichenspezialisten von Sonneberg, und des "Jensch", des Chefkonstrukteurs des 2m-Tautenburger-Teleskopes, waren - auch durch die schärfste SED-Brille betrachtet - keine ideologischen Bedenken gerechtfertigt. Und so sank bei der Institutsleitung allmählich der Widerstand gegen weitere Benennungen. Bewusst blieb Börngen, der Kulturbeflissene und Weltoffene, mit seinen Namensvorschlägen sozusagen auf "neutralem" Boden. Er ehrte Musiker, Wissenschafter, Kulturschaffende, Literaten und weitere historische Persönlichkeiten aus seiner thüringischen Heimat, vermied es hingegen geschickt, irgendwelchen Parteigrössen zu Diensten zu sein. Er blieb ganz bewusst auf Distanz zu all dem, was politisch für oder gegen ihn hätte verwendet werden können.

An den Himmel geschriebene Kulturgeschichte

Nach dem Mauerfall rückte Freimut Börngen seinen himmlischen Lieblingen erst richtig zu Leibe. Zusammen mit Dr. Lutz D. Schmadel vom Astronomischen Recheninstitut begann eine zeitlich begrenzte, sehr fruchtbare Zusammenarbeit mit Survey-ähnlichen Himmelsdurchmusterungen, gleichzeitig baute Börngen seine Namensvorschläge aus und berücksichtigte zunehmend internationale Aspekte. So gibt es heute viele "Tautenburger" mit Bezügen zu geschätzten geografischen Orten im In- und Ausland sowie zu historischen und noch lebenden Persönlichkeiten aus der globalen Kulturgeschichte und Wissenschaft. Auch einige verdiente Amateur-Kollegen kamen dank seinen immer mit Sachkenntnis, Sorgfalt und Liebe formulierten Citations zu himmlischen Ehren. Auffällig sind schliesslich die verschiedenen Namen im Zusammenhang mit dem Widerstand gegen die Nazi-Gewaltherrschaft, so etwa die Asteroiden (8171) "Stauffenberg", (7256) "Bonhoeffer" und (8268) "Goerdeler". Das heutige Committee for Small Body Nomenclatures CSBN tut sich mit solchen Vorschlägen zwar jeweils sehr schwer, weil sie am Grundsatz der politischen Neutralität ritzen. Doch der lebenserfahrene und liberal denkende Asteroidenforscher setzte mit der ihm eigenen Konsequenz mancher tapferen Frau und manchem unerschrockenen Mann, die ihr Leben für die Gerechtigkeit hingaben, ein ehrendes himmlisches Denkmal und wagt deshalb auch heute immer wieder mal einen Vorschlag aus dieser Namensgruppe der NS-Opponenten.

Trotz Ruhestand noch immer aktiv

Vom Astronomen sind wir so beim Menschen Börngen angelangt. Mit dem Abschied aus seinem aktiven Berufsleben im Oktober 1995 gingen auch seine geliebten Kleinplaneten-Beobachtungen zu Ende. Der Zeitpunkt kam nicht ungelegen, denn in der Beobachtungstechnik setzte Mitte der neunziger Jahre ein grundlegender Wandel ein: Nachdem der Computer schon seit Jahren seinen Siegeszug eingeleitete hatte, wurde auch die konventionelle Fotografie durch die digitale Bilderfassung abgelöst. Heute erreichen sogar mittlere Amateur-Teleskope mit CCD-Kameras und entsprechenden Additionstechniken deutlich tiefere Grenzgrössen, als es mit dem 2m-Spiegel in Tautenburg selbst mit besten Fotoplatten von Kodak je möglich war.

Einige aus dem Kreis der europäischen Asteroiden-Beobachter sind nun gewissermassen in die Lücke gesprungen und haben seither, wie vorhin skizziert, stets einige noch unnummerierte "Tautenburger" in ihren Arbeitslisten. Freimut Börngens Lebensakzente haben sich mit seinem Übertritt in den Ruhestand grundlegend verlagert, sind aber weit vom Müssiggang eines Rentners entfernt: Über das Internet und mit umfangreicher Korrespondenz hütet er noch immer aufmerksam seine Asteroiden. Er erstellt Beobachtungslisten, Statistiken und ist mit seinen Namensvorschlägen regelmässig mit Brian Marsden, dem Direktor des Minor Planet Center und Sekretär des namensgebenden Komitees CSBN, in Kontakt. Zusammen mit seiner Gattin Barbara geht er gerne auf grössere und kleinere Reisen, ist aber auch oft auf kulturellen Veranstaltungen in seiner engeren und weiteren Heimat anzutreffen. Namentlich die Musik, zu der die ganze Familie eine enge Bindung hat, hat es ihm sehr angetan. Er pflegt liebvolle Kontakte zu seinen beiden Kindern, zu den Enkeln und den Verwandten im In- und Ausland. Und sein intensiv gepflegter Freundeskreis erstreckt sich heute folgerichtig weit über Deutschlands Grenzen hinaus.

Viele Bezüge zur Schweiz

Freimut Börngen liebt seit seiner Jugend die Bergwelt und fühlt sich entsprechend eng mit den Alpenrepubliken Schweiz und Österreich verbunden. Die Alpengipfel waren für ihn besonders in den Jahren der Abschottung hinter dem Eisernen Vorgang ein wichtiges Freiheitssymbol: Unerreichbar zwar, aber doch stets präsent und erstrebenswert. Rund 30 seiner Asteroidennamen haben einen schweizerischen Bezug, wie zum Beispiel (27764) "von Flüe" zu Ehren des Mystikers und Friedensstifters, (15711) "Böcklin" und (17486) "Hodler" in Würdigung der beiden berühmte Maler sowie mit den (11588) "Gottfriedkeller" und (14041) "Dürrenmatt" in Erinnerung an zwei sehr unterschiedliche, aber weit über unsere Landesgrenzen hinaus hoch geschätzte Literaten. Sogar unserer nationalen Legende, dem Wilhelm Tell, hat er mit dem Asteroiden (16522) ein himmlisches Denkmal gesetzt, nicht ohne im Würdigungstext auf Friedrich Schiller, dem unweit von Jena in Weimar wirkenden "Sänger" des schweizerischen Freiheitshelden, zu verweisen. Geografische Bezüge zu bewunderten Regionen in unserem Land spiegeln sich schliesslich beispielsweise in den Namen (22322) "Bodensee" und (30798) "Graubünden".

Als gemeinsames Merkmal wurden alle diese "Schweizer" Asteroiden mit bahnbogenverlängernden Beobachtungen der Sternwarte Eschenberg (IAU Code 151) in Winterthur verifiziert. Freimut Börngen zeigt sich dankbar für diese Unterstützung aus der Nordostschweiz, denn nicht alle seiner noch unnummerierten Objekte werden von den automatisch arbeitenden Surveys erfasst. Dies gilt für viele Asteroiden jenseits der 20. Grössenklasse im Beobachtungszeitpunkt und ganz besonders für solche, die sich bei ihren aktuellen Oppositionen vor den Sternwolken der Milchstrasse tummeln. Hier sind die roboterisierten Teleskope nämlich sozusagen blind.

Zuversicht im Glauben

Bei der Würdigung von Freimut Börngen sei zum guten Schluss noch auf eine für ihn heute tragende und charakteristische Eigenschaft hingewiesen: Seine Verankerung im christlichen Glauben. Jene, die ihn näher kennen, wissen, wie wichtig ihm dieses geistige Fundament in den finstersten DDR-Zeiten war und noch heute ist. Wenn wir in diesem Beitrag mehrmals schon auf die menschlichen Qualitäten des Jubilars hingewiesen haben, auf seine Liebenswürdigkeit, seine Offenheit und seine Toleranz, dann wurzeln diese herausragenden Eigenschaften in einem Menschenbild, das sich massgeblich auf Nächstenliebe und Friedfertigkeit stützt: Das sind gelebte christliche Tugenden.


© by Markus Griesser